LANDESMUSEUM SCHLOSS TIROL (Videoinstallation)

Bilderwelten des Mittelalters. Zur Installation von Carmen Tartarotti auf Schloss Tirol 
(von Leo Andergassen)
 
Bilderwelten haben es in sich, nicht allein einem Gefüge verpflichtet zu sein. Mittelalterliche Bilderwelten fügen sich in die Polarität von Welt und Gegenwelt, von Erde und Himmel und sind durch den Gegensatz bestimmt, der sich in den gesetzmäßigen Strukturen von Gut und Böse einfangen lässt. Sie gehören zusammen, keine kann ohne die andere existieren. Dieses zuletzt auf Augustinus zurückführbare Weltbild bleibt die Kosmologie schlechthin auch für die Zeit, in der auf Schloss Tirol Kunst am Bau nachgeflickt wurde. Kunst am Bau, das sind im Focus unseres Interesses einmal zwei Portale. Interesse und Interpretation bleiben in den romantisierenden Strömungen des 19. Jahrhunderts verwurzelt. Offene Fragen beschäftigen die Forscher bis heute. Aus den Blickwinkeln der unterschiedlichsten Disziplinen wurden Antworten versucht. Ob sie gefunden wurden, muss letztlich offen bleiben, da sich weder kompakte Theologien, noch Programme, noch Vorlagen, noch vergleichbare – im Sinn der Konkordanz gemeint – Gestaltungen erhalten haben. Die Einzigartigkeit der Bauplastik in dieser Bildkombination ist gleichsam auch schon ein Trumpf im Zocken der Karten. 
 
Einen grundsätzlich anderen Weg geht die Installation von Carmen Tartarotti. Ausgehend von der Anordnung der Bilder an den Portalen wird hier ein Weg beschritten, der gleichsam den roten Faden einer Interpretation vorgibt. Die Deutung der Bilder ist nicht das mittelbare Thema, vielmehr hat die Filmkünstlerin das Ganze im Auge, um aus den Indiktionen zu Ruhe und Bewegung, zu Bezogenheit und Abkehr, zu Öffnung und Schluss zu neuen Ergebnissen zu kommen. Diese liegen nicht auf der Ebene der bisherigen Deutungen. 
Die Form des Triptychons antwortet auf die Anlagen der Portale, an denen es jeweils eine Bezogenheit zur Mitte hin gibt, wenngleich auch dort die Abseiten ein Eigenleben führen, das nicht zwingend mit dem Hauptbild übereinstimmt. Die Form des Triptychons ist in der Alten Kunst immer eine besonders feierliche Form der (religiösen und politischen) Präsentation gewesen. Dreiteilung der Tempel, Dreiheiten in den Bildfeldern,  Dreischritte in der Argumentation. Das Triptychon ermöglicht es, Bildbeziehungen im direkten Vergleich beständig zu überprüfen. In der Installation heißt dies, ständig die Bewegtheit in den Flanken im Verhältnis zur Ruhe im Mittelbild dazuhaben. Was an den Seiten abläuft, hat seine Referenz in der Mitte und aus der Mitte erklären sich die Detailblicke an den Seiten. Das Übergeordnete, wenn man so will das Programm, das Konzept, der Schlüssel zum Verständnis, bleibt mittig da, es steht fest und ermöglicht immer den Gegenblick. Die laufenden Bilder freilich haben jenen im Stein eines voraus: Die bringen alles in Bewegung, was im Steinmedium nur in der Erinnerung durch- und nacheinander gerät. 
Die Dauerhaftigkeit des Steins, dem von alters her gleichsam Ewigkeitsanspruch übergestülpt wurde, entspricht die auf Dauer angelegte Installation, die am Stück wiederholt wird. 
 
Die Neugier nach der letzten Einzelbedeutung der Figuren wird unbeantwortet bleiben und trotzdem verlässt der Beschauer die Installation nicht ohne Ergebnis. Damit ist eine Interpretation angesprochen, die dem mittelalterlichen Menschen nicht fremd gewesen sein mag. Dämonisiert man die Bilder, so kommt man nicht umhin, jedem Detail die Aufmerksamkeit zu schenken. Sieht man in der Anlage eher den Charakter des übergeordneten Programms, so bleibt dabei die Einzelbedeutung zurück. Das Zerteilen der Bilder ist einem unverdaulichem Essen, das nicht geschluckt werden will, nicht unähnlich. Im Zerschneiden der Mahlzeit wird Zeit gewonnen, über die sich das Hungergefühl verliert. Das Herumstochern schafft nur Langeweile. 
Anders die Installation. Aus den Momenten von Ruhe und Gelassenheit, die den Tieren und Menschen am Palasportal anhaftet, wird eine Aura evoziert, die mit dem Begriff des Paradieses umschrieben werden kann. Menschen und Tiere im Einklang, die Schöpfung unter dem Aspekt von Vollendung gesehen. Die Tiere sind in ihrer Vollform gezeigt, keine Fabelwesen finden sich am Portalgewände. Ob in den Menschenpaaren nun die Stifter gemeint sind, bleibt Nebensache. Sind sie es, oder sind sie es nicht? Die Hauptfigur bleibt der Heroldsengel im Tympanon. Er ist der, der die Tür bewacht und den Einlass gewährt. Freilich erweitert der Bilderbogen um den Engel die Paradiesthematik in eine unerwartete Richtung: Daniel in der Löwengrube am Bogenscheitel ist mehr als ein alttestamentliches Erzählbild. Er bezeichnet von alters her den Triumph Christi, der die Macht des Feindes mit Füßen tritt. Der alttestamentliche Träumer bändigt die Löwen und ist somit ein Hoffnungsbild auf Errettung. Dieser apokalyptische Bogen überspringt die die Ruhe im paradiesischen Portalgewände. Die Installation arbeitet diesen Kontrast heraus. In der Auswahl der Musik wird der Wohlklang deutlich, der genau der Ruhe der Figuren entspricht, die hier statisch und verhalten in einer friedlichen Position erscheinen, ganz im Unterschied zum Kapellenportal, wo plötzlich Spannung und Aktion zu den bestimmenden Momenten gehören.
Der Unterschied beider Gestaltungen verlangt nach einer Erklärung. In der Installation ist der Unterschied durch einen markanten Bruch angedeutet. Was aber letztlich die enge Aufeinanderbezogenheit unterstreicht. Ist das Paradiesportal nicht letztlich auf das Erlösungsportal abgestimmt und nimmt die endzeitliche Andeutung im Bogen des Paradiesportals nicht gleichsam alles Ende vorweg? 
Im Durchschreiten des Raumes, der nicht so sehr als Standmotiv sondern vielmehr als Wegmotiv gesehen zu werden hat, passiert etwas, was in der religiösen Vorstellung mit dem Begriff der Sündenfalls eingefangen werden kann. Die Tiere und Menschen am Paradiesportal sind nicht als Mischwesen, als Fabelwesen gezeigt. Diese treten erst am Erlösungsportal auf, das thematisch im Tympanon mit der Kreuzabnahme seine Mitte hat. Kreuzabnahme und Kreuzigung sind als Synonyme zu betrachten. Die bewegtere Ikonographie der Abnahme wirkt gleichsam als Auferstehungsbild.
In den Mischwesen des Gewändes türmt sich das Böse in Ekstase auf. Die Handlung zeigt eine große Dramatik, jede Figur ist in Aktion. Es bedarf an dieser Stelle gar nicht des Detailblicks, um die Grundaussage zu begreifen. 
Was der Kunsthistoriker beschreibt, wird in der Dramaturgie der Installation umgesetzt. Dabei ist es am Kapellenportal unwesentlich, wo das Auge den Anfang nimmt. Carmen Tartarotti hat im Schnitt bewusst auf Bewegung gesetzt, was in der Musik noch eine Verstärkung erfährt. Die Spannung entlädt sich erst, wenn der Blick im Bogenscheitel angelangt ist. Die Segenshand Gottes macht allem Hokuspokus, allem Kampf ein Ende. Die Ruhe steigert sich nun wieder zum Triumph, der dem Sieger-Christus gehört. 
Indem beide Portale aufeinander bezogen und zu einer Einheit zusammen gelesen werden, stellt sich erneut die Frage nach der Bedeutung des Raumes, der dazwischen liegt. Ist die Szene des Sündenfalls auch am Kapellenportal gezeigt, so hat er sich in zeitlicher Bemessung schon zuvor ereignet: Der sog. Palas ist nichts anderes als das Meer der Welt, das mare saeculi, wie es in der Antike und den Kirchenvätern aufgrund seiner Randlage im Kosmos bezeichnet wurde. Für den Physiologus ist das Meer das Sinnbild für die Welt schlechthin. Das Meer ist die Heimat des Bösen, des Ungesicherten, der Leidenschaft. Was sich in ihm tummelt ist letztlich dem Tod geweiht.“ Die Schiffe und Seewesen an den Kapitellen tragen zu dieser Deutung bei. Für die Filmschaffende ist entscheidend, dass mit dem Weg vom Palas- zum Kapellenportal etwas eintritt, was mit der Kategorie der Zeit festgeschrieben werden kann. Die Zeit ist es, die nach Sündenfall und dem Verlassen des Paradieses auftritt und mit ihr die Vergänglichkeit und der Schmerz. Ansonsten stünde das Erlösungsportal zweckfrei da, ohne Anbindung. Auch die Gestalten am Paradiesportal erhalten so eine neue Bedeutung: Die Tiere und Menschen am Gewände sind in der Sinnsprache des Physiologus „als ein Gleichnis zu nehmen für diejenigen, welche damit beginnen, sich um die Bürgerschaft im Gottesstaate zu bemühen und gute Werke zu üben, dann aber umkehren und in ihre alte Weltlichkeit zurücksinken“. 
Die Portale werden im der Installation innewohnenden Blick zu einer Metapher der Wiederkehr des Ewiggleichen in einer auf Stillstand angelegten Harmonie. Bewegung und somit Entwicklung wird erst nach dem Sündenfall ermöglicht, der letztlich zu Destruktion und Tod führt. Was uns Tartarotti in den bewegten Bildern vorführt, ist insgeheim durchaus eine neue künstlerische Aussage, die aus der Anschauung des Alten gewonnen wird. In der Metaebene ist das Durchschreiten und Beschauen der Portale, das Aufnehmen der Bilder letztlich die Wiederkehr des Immergleichen. Um das zu Erkennen wurde sprichwörtlich das Gedächtnis bemüht, das geradezu die Intervention des Gegenwärtigen erwartet, wie es Paul Vallery einmal formuliert hat. Den Weg hinzu baut die Installation. Der Stoff liegt unberührt im Alltäglichen, man muss ihn nur holen, so Patrick Roth in „corpus christi“.
 
Wenn letztlich die Kunstinstallation auch in ihrer Aussage den alten Stoff entmystifiziert, so transponiert sie ihn ins Heute, ohne ihm aber von seiner Spannungsgeladenheit zu nehmen. Diese wird sogar noch im Gegenüber der Vergleiche verstärkt. Die zeitgenössische Musik, die als dramaturgisches Element ein wesentlicher Faktor in der bewegt gezeigten Bilderwelt zu sehen ist, wurde für die Installation komponiert und stammt vom Riehm-Schüler Rainer Lorenz in Karlsruhe, von dem im Berlin lebenden Ali Askin und dem jungen Koreaner Changwon park. Eine Variante bringt eine Mischung aus Phil Glass und Heiner Goebbels. Damit vervollständigt sich das Puzzle mittelalterliche Traumbilder zu einem Gesamtkunstwerk, wie es nicht allein im Barock, sondern zu allen Zeiten Ziel einer Einrichtungskunst war.
Die Dramaturgie der Portale erklärt nicht zuletzt die metaphorische Bedeutung des Palas. Vorräume zu Kirchen wurden im Mittelalter als Paradies, als Paradeis bezeichnet. Aus ihnen heraus wird der heilige Raum beschritten. Der Palas in Schloss Tirol ist somit auch Paradies und Vorraum zur Kapelle. Wie in einem Kreuzgang öffnen sich die Fenster ins Landschaftsparadies. 
 
Die Installation von Carmen Tartarotti steht aber nicht als isolierter Bildevent im Raum. Nähert man sich ihr aus der Kapelle, so treten Stimmen aus den Mauern, die Zitate aus dem Physiologus bringen, einer der möglichen Quellenschriften für Verständnis und Interpretation von Tieren und Pflanzen. Hörbar sind aber auch die mahnenden Worte eines Bernhard von Clairvaux, der im Brummton des Kreuzzugspredigers allerhand gegen die „lächerlichen Ungeheuerlichkeiten, jene seltsam unschöne Schönheit und schöne Unschönheit, die unreinen Affen, wilden Löwen, missgestalteten Kentauren, fleckigen Tiger und kämpfenden Soldaten“ auszusagen hatte. Die Beschreibung scheint auf die Bilderwelt der Portale bezogen. Die „pädagogische Seite“, die in der Installation bewusst außer Acht gelassen wurde, um den Fluxus der Darstellung nicht durch elementare Zwischenrufe zu stören, wird separat aufgerollt. In einem informativen Video in der Sakristei werden Informationen nachgeholt, die zu den Techniken, den Stilfragen und den Steinmetzen Auskunft geben, die hier nicht zu wiederholen sind. 
 
Die Bilderwelt des Mittelalters ist zwar fremd und abgelegen, lagert an den Grenzen unseres Bewusstseins und unserer historischen Kompetenz, sie rückt aber in der Installation von Carmen Tartarotti überdimensional in nächste Nähe vor unsere Augen. Dass mit dem Aufgreifen der Bilder mehr gemeint ist als eine Wiederholung ins Großdimensionale und Bewegte, liegt auf der Hand. Die künstlerische Transposition rührt am Kern des Verständnisses für mittelalterliche Kunst, vor der wir ergriffen sind, ohne sie wirklich zu verstehen, sondern nur Unbegreifliches empfinden. Die Unkenntnis der Bilderwelt  verschafft uns ein fragmentarisches, zufälliges poetisches Erlebnis nicht zuletzt vom Schönen, dem wir ein überzeitliches Dasein zumessen. Der Engel am Paradiesportal ist Ariel, dem kein Tor verschlossen blieb. In einer sinnenhaften Umsetzung zeigt die Installation der „Bilderwelten des Mittelalters“ mehr an als Reproduktion und Zeigekunst. Es werden Verständnistore aufgetan, und die Portale erhalten auf einer neuen Ebene ihren Platz zugewiesen.
 
Der mittelalterliche Mensch – so Otto von Simson in seinem Buch „Von der Macht des Bildes im Mittelalter – erlebte das Vergangene als in der Gegenwart mächtig, und damit erschien auch das bedingungslos Gültige, das Heilige in den geschichtlichen Leben wurzelnd und fortwirkend. Dass in der Geistigkeit des 12. Jahrhunderts dies gewissermaßen die Bildnorm war, liegt außer Zweifel. Dass in den stummen Steinen über die heutige Kunst Brücken zur Zeitgenossenschaft gebaut werden können, kann man sich bei einer stillen Beschauung überzeugen.