PARADISO DEL CEVEDALE

(Deutsche Bauzeitung)
„Ein faszinierendes Stück Kultur- und Architekturgeschichte!“

(Salzburger Nachrichten, 21. Dezember 1993)
Der beeindruckende Film unter den drei Preisträgern stammt von Carmen Tartarotti. „Paradiso del Cevedale“ erzählt die Geschichte eines einst mondänen Hotels im Südtiroler Martelltal. Architekt Gio Ponti errichtete hier in den 30er  Jahren einen gewagten, vom Futurismus beeinflussten Hotelkomplex, ein versuchtes „Paradies“  inmitten abgeschiedener, alpiner Landschaft. „Paradiso del Cevedale“  - eine poesievolle Dokumentation über Utopien und deren Einholung durch die Realität.
 
(Stadtkino Wien) 
„Errichtung, Blüte, bauliche Veränderung und Verfall werden über die Erzählungen von Bewohnern, Besitzern und Gästen nachvollziehbar. Das „Paradies“ – meist nur als bröckelnde Fassade im Film präsent – entsteht in seiner Bedeutung und seinem Glanz in der Imagination des Zuhörers und Betrachters“
 
(Dolomitenmagazin 20.11.1993, Haidi Romen)

PARADISO DEL CEVEDALE
Mit dem Bau im hintersten Martelltal verknüpfen sich widersprüchliche Erinnerungen. Bilder von Aufbau und Zerfall, von idealistischem Fortschrittsglauben und Spekulation, von Soldaten und faschistischer Besetzung. Vom Paradies und dem Sündenfall. Die Kontraste und Widersprüche hat die Latscher Filmemacherin Carmen Tartarotti zu einer spannungsreichn Dokumentation verwoben.
„Das Paradies“, beschreibt Carmen Tartarotti, „ist ein Ort im hinteren Martelltal, an dem sich die städtische Zivilisation in den 30er Jahren ein futuristisches Hotel nach einem Plan des berühmten italienischen Architekten Gio Ponti haben bauen lassen. Dieses Hotel steht jetzt schon seit über 20 Jahren als Ruine da.“ Um diesen Ort rankt sich der Film. Carmen Tartarotti dazu:“ Das Paradies ist eine Metapher für einen landschaftlich zauberhaften, unberührten Ort. Dieser Fleck wurde von reichen, einflussreichen Leuten aus der Stadt ausgeschaut, um ein Hotel mit allem Komfort für ihre modernen Erholungsansprüche zu errichten. Die Filme-macherin sieht das nicht nur positiv: “Die andere Seite der Paradiesmetapher ist die der Versuchung und der Sünde. Zu dem futuristischen Bau inmitten einer bäuerlichen, alpinen Landschaft hatten die Bauern aus dem Tal nur als Bauarbeiter und später als Lebensmittel Lieferanten Zutritt. Dazu kommt, dass das Unternehmen ein Italienisches war, also im Zuge der Italienisierung Südtirols entstanden ist und eine kulturelle und landschaftliche Okkupation darstellte.“
 
Der Blick der Autorenfilmerin ist nicht rein idyllisch. Im Gegenteil. Ihre Kritik aber bringt sie sehr leise an. Sie versetzt das vielgleisige Geschehen mit einer feinen Ironie, wird dabei aber nie denunziatorisch. Die Ironie liegt zwischen den Bildern, in den Schnitten und verlangt einen hellhörigen und aufmerksamen Zuschauer. „Hotel Paradiso“, bekennt Tartarotti dann auch, „ist indirekt auch ein Film darüber, wie Kapitalismus funktioniert. Dem idealistischen Fortschritts-denken der 30er Jahre folgt das Profit- und Rentabilitätsdenken der 50er Jahre und das Spekulationsdenken in den 60er und 70er Jahren; eine zunehmende Zweckentfremdung.
 
Die Dokumentation selbst entsteht aus den Erinnerungen der Personen, die in und mit dem Hotel gelebt haben und die, indem sie erzählen, zwei Bilder gleichzeitig entstehen lassen, das des Hotel „Paradiso“ und ihr eigenes. Wahrheit und Legende („die Kellner haben damals den Gästen mit weißen Handschuhen die Orangen geschält“). Jeder fügt seinen ganz persönlichen Baustein zum Film. Tartarotti: „Jede Person, die im Film mitgewirkt hat, ist auf ihre Weise einmalig. Jeder der zwölf Mitwirkenden ist er selbst, bleibt bei sich, bleibt dran an seiner Geschichte, versteckt sich nicht hinter seinen Argumenten. Der Zuschauer kann sich daraus selbst ein Bild schaffen und ein Urteil bilden“. Die Regisseurin hat natürlich ein bisschen nachgeholfen, „die Personen in Beziehung gesetzt und die Beiträge auf den Punkt gebracht“. Während Postbote Ernst Moser schwärmerisch erzählt, wie lustig es im Hotel zugegangen ist, und wie herrlich Natur und Berge im Martelltal sind, muß die heutige Besitzerin Margarethe Fuchs auch den Vorwurf ertragen, das Hotel als Abschreibungsprojekt verfallen zu lassen. Und Franco Richard, der Sohn des Bau-Unternehmers, der das Hotel „Paradiso“ erbaut hat, steht für die Mentalität der 30er Jahre ein: „Der Baustil war ungewöhnlich, es wurden weder habsburgische noch tirolerische Traditionen aufgegriffen, es gab eine anspruchsvolle Fassade mit einem Pultdach, Dinge die man als mutig und in die Zukunft weisend beurteilt.“ Dass die Regisseurin mit Brüchen arbeitet, wird im Bildschnitt, im Aufeinanderprallen der Kontraste deutlich. Nicht Richard ist nämlich zu sehen oder der „zukunftsweisende Bau“, sondern ein Bauer, der sich bei der Kartoffelernte bückt. Eine Verschiebung, die verdeutlicht, wie fremd das Hotel und die Mentalität seiner Gäste den Martellern damals waren.
 
Noch eine umstrittene Phase wird im Film aufgearbeitet. 1944 waren im Paradies die Soldaten der SS-Division Brandenburg stationiert. Der Kontrast zwischen  der Aufgabenstellung der Soldaten, dieses sog. „Himmelfahrtkommandos“ und dem Luxus in welchem sie schwelgten, könnte nicht größer sein. Die scheinbare Ruhe und Ausgeglichenheit in der Darstellung wird hier gestört durch die Stimme einer Frau, die das Geschehen von einer höheren Warte, der Schutzhütte aus beobachten konnte. „Die waren dort, weil es ein ruhiges Platztl war... geschwommen sein´s in Lebensmittel, während die Truppen an der Front verhungert sind.“
 
Landschaftsbilder von Martell werden sparsam und gezielt eingesetzt. Das Schwelgen in Naturklischees ist Carmen Tartarotti fremd. Weiße Schneefelder sind an Stelle schwindelnder Gipfel zu sehen und werden zur Metapher einer spurenlosen Decke, hinter der „Unfassbares geschieht“. „Drei Sprachen werden in dem Film nebeneinander gesprochen: Südtiroler Dialekt, Schriftsprache und Italienisch“. Die Sprachvermischung selbst stellt in dem Film keine Polemik dar, wie etwa in der „Walschen“ von Joseph Zoderer, verfilmt von Werner Masten. Die Dreisprachigkeit ist Thema und Feststellung zugleich: „Südtirol ist ein dreisprachiges Land“. Und was sich der Filmemacherin erst allmählich aufdrängte: „Was sich als Sprachkonflikt zeigt, ist in Wirklichkeit ein politischer, ein Interessenskonflikt“.  
 
Carmen Tartarotti Dokumentarfilme bedienen sich nie eines übergeordneten Kommentars. Es gibt keinen Sprecher, nur Personen, die etwas zu erzählen haben und die aus ihrer jeweils ganz eigenen Sicht: „Die Filme wollen nicht informieren, nicht unterrichten, sondern etwas sichtbar machen. Wenn ich mir einen Film anschaue, will ich etwas sehen und erkennen, was ich so vorher nicht gesehen und erkannt habe. Das ist erhebend.“
 
Carmen Tartarotti ist Autorenfilmerin. Sie zeichnet für alle Drehbücher und für die Regie. Ja sogar für den Schnitt ist sie selbst verantwortlich. Trotzdem schafft sie nicht alles ganz alleine:“ Es hat in all meinen Filmen immer wieder Menschen gegeben, Freunde, die mir zur Seite gestanden haben und in den wesentlichen Arbeits- und Entscheidungsphasen geholfen haben. Bei Paradiso del Cevedale waren das gleich mehrere, mit denen sie jetzt die Lorbeeren teilt. Die Schriftstellerin Ria Endres hat wesentlich bei der Erstellung des Exposes mitgewirkt. Wichtigster Begleiter beim Schnitt war der Frankfurter Hörspieldramaturg Ferdinand Ludwig. Von dem Schweizer Kameramann Pio Corradi, der u. a. „Höhenfeuer“ von Fredi Murer gedreht hat, stammen die eindrucksvollen Aufnahmen der Personen und die Außenaufnahmen des Hotels, die sich immer wiederkehrend wie Ruhepunkte über den Film verteilen. Die Musik stammt von dem österreichischen Komponisten Werner Pirchner. Er hat sie extra für den Film komponiert. Carmen Tartarotti hat ihn spontan aufgesucht, nachdem sie seine „Sonate vom rauen Leben“ gehört hatte. „Ich wollte unbedingt seine Musik und er mochte meinen Film“ Ihr nächster Film? Ein Spielfilm? „Vorläufig bleibe ich noch beim Dokumentarfilm“. Der bei ihr freilich eine Art Dokumentarspielfilm ist: „Alle meine Dokumentar- filme enthalten Spielfilmmomente, und umgekehrt ist mein erster Kurzspielfilm Kribus-Krabus-Domine auch sehr dokumentarisch“.
 
Mit ihren Filmen hat Carmen Tartarotti auf ihre Weise Meilensteine gesetzt. Mit „1 Häufchen Blume ein Häufchen Schuh“ einem Filmprojekt, das sie in Zusammenarbeit mit Bodo Hell über die Dichterin Friederike Mayröcker für den ORF gedreht hat  ist ihr nach Ansicht von bedeutenden Kritikern eine ganz neue Art von Literaturverfilmung gelungen, „ein dem Gegenstand angemessenes Kunstwerk“, wie die Süddeutsche schreibt. Die Jury von LiteraVision verlieh ihr 1991 dafür den ersten Preis für Literaturbeiträge im Fernsehen. Für die Regisseurin war dies nicht ihre erste Auszeichnung. Bereits für ihren ersten Film „Kribus-Krabus-Domine“ bekam sie einen Drehbuchpreis und das Prädikat „besonders wertvoll“. Anfang Dezember wird sie auch in Südtirol ausgezeichnet. Das Kulturinstitut will ihr für ihre kulturell einfühlsamen Filme den Südtiroler Förderpreis überreichen. Manchmal ist der Prophet auch im eigenen Land etwas wert.
 

(Frankfurter Rundschau 31. 03.1994)
Die dominierende Blickrichtung der Frankfurter Filmschau war in die Vergangenheit gerichtet, vom Experiment angekehrt und auf Wirklichkeiten konzentriert
Die drei gelungensten unter ihnen.(...) Carmen Tartarottis Dokumentarfilm „Paradiso del Cevedale“, in dem die aus Südtirol stammende Frankfurter Filmemacherin das Schicksal eines in den 30er Jahren errichteten futuristischen Grandhotels in den Alpen verfolgt. In Interviews mit Dorfbewohnern, Gästen und Investoren, mit Briefen und Fotos sowie sparsam eingefügten, sorgsam komponierten Landschafts- und Detailaufnahmen stellt sie die Blüte des Hotels der heutigen Ruine gegenüber. Vor allem aber lässt sie an dem idyllischen, von allen mit dem „Paradies“ assoziierten Ort die Brüche der Zeitläufte, die brutale Konfrontation von Kulturen und Denkweisen subterran hervortreten.

DER STANDARD, 12./13.1.2013, Sabine Gruber
Paradiso im Verfall. Quartier, Versteck und Fremdkörper.
Das Schneefeld vor mir ist unberührt. Nur an einer Stelle hat Wild Spuren hinterlassen, die Richtung Wald führen. Ich stehe auf 2160 Meter Höhe am Ende des Südtiroler Martelltals, in einer vom Tourismus vergessenen Gegend. Für einen Wintertag ist es warm. Die milden Temperaturen und geringen Niederschläge ziehen vereinzelt Wanderer an, aber ihre Route verläuft weiter hinten Richtung Zufallspitzen und Cevedale. Ich habe, vom Vinschgau kommend, 1400 Höhenmeter zurückgelegt, bin durch Wälder gefahren, habe Felsen überwunden und zuletzt einen Stausee passiert, hinter dem sich, von der Mittagssonne beleuchtet, das Ortlermassiv erhebt. Weiße Zacken hinter hellblauem Gletscherwasser. Ein Freund, der häufig in Südamerika unterwegs ist, vergleicht dieses Stück Hochlandschaft mit Patagonien.Bald nach dem künstlichen Zufrittsee und nach einer allerletzten Talstufe hört die enge,kehrenreiche Straße auf. Nachdem ich den Wagen geparkt habe, spaziere ich über eine Holzbrücke auf die andere Seite des Bergbaches, dorthin, wo sich der Talschluss noch einmal weitet. Im Sommer blühen hier Kohlröschen, Silberdisteln, Arnikas und Enziane. Die Gegend ist Teil des 134.620 Hektar großen Nationalparks Stilfser Joch, der an andere Schutzparks wie den Nationalpark Engadin und den Naturpark Adamello-Brenta grenzt, so dass von einem der größten Schutzgebiete Europas gesprochen werden kann.Mitten in dieser stillen Natur, umgeben von Lärchen und Zirbelkiefern, steht ein halbverfallenes, monumentales Gebäude mit Pultdach und konkav geschwungener Fassade: das einstige Luxushotel Albergo Sportivo Valmartello al Paradiso del Cevedale. Es ist in Rosso veneziano gestrichen, der Lieblingsfarbe des vorletzten Besitzers, eines venezianischen Reeders, der es in den Sechzigerjahren
den Inhabern der Bierbrauerei Forst weiterverkauft hat. Ursprünglich war das Gebäude grün
gewesen, es sollte sich in die Natur eingliedern, blieb aber aufgrund seiner Größe und des
ungewöhnlichen futuristischen Baustils stets ein Fremdkörper in der bäuerlichen Kulturlandschaft.
Die ärmlichen Talbewohner waren in den frühen Dreißigerjahren gegen den Bau gewesen, weil sie befürchtet hatten, dass durch ihn wichtiges Weideland verlorengehen könnte. Außerdem sahen sie in dieser einfachen und klaren, sich vom Tiroler- und Habsburgerstil abhebenden neuartigen alpinen Architektur ein weiteres Symbol der Italianisierungspolitik durch die Faschisten. Das Hotel war, unterstützt von der Regierung Mussolinis und dem italienischen Verkehrsministerium, von dem Mailänder Architekten Gio Ponti unter der Führung von Oberst Emilio Penatti zwischen 1933 und 1935 gebaut worden. Für Ponti, den Begründer des Architekturmagazins Domus, blieb das Paradiso del Cevedale der einzige Hotelbau; später entwarf er u. a. den Pirelli-Turm in Mailand und die Innenausstattung des Luxusliners Andrea Doria, der im Juli 1956 auf dem Weg nach New York mit einem schwedischen Passagierschiff kollidierte und sank. Eine ähnliche Katastrophe wie beim Untergang der Titanic konnte durch zu Hilfe kommende Schiffe verhindert werden. Dass das Hotel Paradiso Anfang der Dreißigerjahre - wie übrigens eine Reihe anderer Bauten an entlegenen Orten der Alpen - vom Stile internazionale und von der Bauhausidee geprägt war, erkannten die Einheimischen nicht; für sie war der moderne Pultdachbau nichts anderes als ein "Schupf" (Schuppen). Ich bin schon mehrmals zu unterschiedlichen Jahreszeiten hierhergekommen, doch nie im Winter. Die Schatten der Wolken ziehen über das Schneefeld. Das Rosso veneziano der Fassade bringt im Mittagslicht das Haus zum Leuchten.
Thomas Bernhard hat das Hotel im Stimmenimitator erwähnt; naturgemäß neigte er zu
Übertreibungen: Das Gebäude wurde nicht von über tausend, sondern von etwa hundert Arbeitern errichtet, und es verfügt auch nicht über zwölf Stockwerke, sondern über fünf. Doch ist die Gegend tatsächlich "eine der unberührtesten in den Alpen überhaupt" und bis heute kaum erschlossen. Statt Bergbahnen und Skilifte zu errichten, setzten die Talbewohner seit den Sechzigerjahren auf den Anbau von Gemüse und Beeren. In Höhenlagen bis zu 1700 Metern werden Erdbeerplantagen kultiviert - das Tal gehört zu den regenärmsten der Ostalpen. Ob man deswegen auf die Idee gekommen war, hier ein Luxushotel zu errichten? Vielleicht suchte man bloß einen spektakulären Ort, dessen unruhige Silhouette den klaren Baustil unterstrich? Oder wollte man mit diesem modernen Koloss ein Südtiroler Naturparadies faschistisch markieren, das zwei Jahrzehnte zuvor noch Teil der österreichischen Monarchie gewesen war? Das Herankarren von Ziegeln, Zement und Sand musste auf dieser Meereshöhe kostspielig gewesen sein; ohne die Mithilfe heimischer Arbeiter, die auf der Großbaustelle werkten, wäre das Hotel wohl kaum so schnell errichtet worden. Außerdem versorgten die Martelltaler das Haus mit frischen Eiern, Fleisch und anderen Naturalien, verdienten mit Rucksack- und Schrankkofferschleppen ein Zubrot und brachten die reichen internationalen Touristen, vor allem aber faschistische Funktionäre, Wirtschafts- und Finanzbosse im Winter von der Bahnstation Goldrain in Schlitten zum Berghotel.
Den Gästen, die auch aus Japan anreisten, wurde jeder Luxus geboten: ein eigenes Post- und Telegraphenamt, ein Lesesaal mit englischem Kamin, eine Taverne, und für das körperliche Wohlbefinden waren ein Friseur, ein Masseur und Skilehrer zuständig; es gab sogar eine Sauna.
In dem Dokumentarfilm Paradiso del Cevedale der Südtiroler Filmemacherin Carmen Tartarotti
erzählen Bauersleute, dass das erste Wort, das sie auf italienisch gelernt hätten "mangiare" (essen) gewesen sei. Man habe in den Dreißigerjahren für drei Lire plus Kost gearbeitet. Die Gänge des Hotels seien mit teuren Teppichen ausgelegt gewesen, und die Kellner hätten beim Schälen der Orangen weiße Handschuhe getragen. "Die Kühe", beklagte sich ein Bauer, "sollten nicht mehr scheißen!"

Quartier und Naziversteck
Nachdem Italien im Herbst 1943 kapituliert und Mussolini die Macht verloren hatte, zogen die
Deutschen im Paradiso ein. Von da an, so eine ehemalige Bedienstete, habe man das Gebäude nur mehr in Socken betreten dürfen. Die SS benutzte es als Spionageschule für alle Waffengattungen. Man beobachtete vom Hotel aus die Berge und schoss auf Deserteure, die über das Ortlermassiv in die Schweiz zu flüchten versuchten. Neben anderen Burgen und Villen in Meran und Umgebung diente auch das Paradiso als Quartier und Versteck für Vertrauensleute von Schieberbanden, die sich schon früh auf alle Eventualitäten vorzubereiten begannen. Da der Krieg bald enden würde, deckten sich einige Nazis wie SS-Sturmbannführer Friedrich Schwend mit Aktien und Gold ein, eröffneten Konten in Liechtenstein und in der Schweiz und ersannen mögliche Fluchtwege. 1944 waren Soldaten der SS- Division Brandenburg im Hotel Paradiso; sie hätten - wie eine Bäuerin erzählte - in Saus und Braus gelebt, während man an der Front längst gehungert habe. In der ersten Woche seien sie noch freundlich gewesen, in der zweiten hätten sie nur noch Befehle
erteilt. SS-Obersturmbannführer Otto Skorzeny, ein gebürtiger Wiener, der das Unternehmen Eiche geleitet und Mussolini aus der Gefangenschaft der Regierung Badoglio am Gran Sasso befreit hatte, soll angeblich als Prämie für die erfolgreiche Operation einen vierwöchigen Urlaub im Paradiso geschenkt bekommen haben.
Obwohl sich das Hotel nach dem Krieg wieder regen Gästezuspruchs erfreute, ging es ein Jahr später, 1946, in Konkurs. 1952 erwarb es der venezianische Reeder Arnaldo Bennati, der durch Immobilienspekulationen reich geworden war, ließ es neu anmalen und erweiterte es durch Zubauten. Er überlegte, die Gäste bei starkem Schneefall mit einem Hubschrauber herbringen zu lassen. 1955 änderte Bennati, dem auch das Hotel Bauer-Grünwald in Venedig gehörte, seine Meinung über die Zukunft des Paradiso und überließ es in unfertigem Zustand seinem Schicksal. Seit den frühen Fünfzigern steht es leer. Eine Zeitlang wurde das Gebäude noch überwacht, dann völlig sich selbst überlassen, was dazu führte, dass es nach und nach all seiner beweglichen Inventargüter beraubt wurde. Ponti hatte für jedes einzelne Zimmer individuelles Mobiliar entworfen.
Die jetzigen Besitzer, die Inhaber der Bierbrauerei Forst, sollen das Hotel nicht mehr in Betrieb
genommen haben, weil sich der Staat geweigert hatte, die Straße, die noch immer am Stausee
aufhört, dorthin zu verlängern. Nur "ein schlecht befestigter Almweg geht das Stück weiter. Die
letzte Brücke vorm Paradies ist für schwere Fahrzeuge nicht passierbar", steht in Franz Tumlers Buch Das Land Südtirol. Ein Glück. Wäre die Zufahrt geteert und die Brücke erneuert worden,hätten die Deutschen in dieser Idylle möglicherweise nicht nur den Umgang mit Sprengstoffen, sondern auch mit Panzern geübt. Über mir glaube ich einen Bartgeier zu erkennen. Ich denke an den Hirten, der noch lange nach Kriegsende Adler an der immer selben Stelle kreisen sah. Man fand dort zwei Leichen, welche die SS in die Schlucht geworfen hatte. Kleidung und Erkennungsmarken waren noch da; die Toten wurden in Schlanders begraben.
Auf dem Weg zum Auto gehe ich noch einmal über das Schneefeld, die Ruine im Rücken, dieses Rot, das an eingetrocknetes Blut erinnert. Ich sehe nur meine eigenen Tritte. (Sabine Gruber, Album, DER STANDARD, 12./13.1.2013)